Die typisch deutsche Redewendung »die Kuh vom Eis holen« hat ihren Ursprung vermutlich im landwirtschaftlichen Alltag: Im Gegensatz zu Pferden, die als Fluchttiere in brenzligen Situationen das Weite suchen, laufen Kühe bei Gefahr nicht davon, sondern bleiben wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Verirrt sich eine Kuh im Winter beispielsweise auf einen zugefrorenen See und merkt dann, dass sie sich auf einer spiegelglatten Oberfläche befindet, bleibt sie folglich stehen anstatt zu fliehen.

Da eine Kuh jedoch ziemlich schwer ist – immerhin wiegt sie ungefähr zehnmal so viel wie ein Erwachsener –, kann man sich in etwa vorstellen, wie gefährlich diese Situation ist, denn es besteht die Gefahr, dass sie einbricht. Deshalb muss die Kuh schnell vom Eis, und weil sie das allein nicht schafft, muss sich der Bauer höchstpersönlich auf den zugefrorenen See wagen, um die Kuh vom Eis herunterzuholen. Im übertragenden Sinne bedeutet »die Kuh vom Eis holen«, dass jemand ein heikles Problem lösen oder eine schwierige Situation überwinden muss.

Einer unserer Kunden aus unserer ostwestfälischen Heimat erweiterte diese Redensart um einen entscheidenden Aspekt: »Die Kuh muss vom Eis, und ist sie erst einmal runter, können wir sie wieder melken.« Dies brachte uns auf die Idee zu unserem ersten eigenen Animationsfilm, in dem es um die vier Bauern Johann, Jonathan, Willy und Piet geht, deren Höfe sich am Ufer eines Sees befinden und die jeweils eine weiße Kuh mit einem braunen Fleck auf der Stirn haben.

Als Bauer Johann eines schönen Wintermorgens vor die Tür geht, sieht er von Weitem eine Kuh auf dem vereisten See stehen. Die anderen drei Bauern kommen ebenfalls aus ihren Häusern, aber anstatt die Kuh möglichst schnell gemeinsam vom Eis zu holen, bevor sie womöglich einbricht, geht eine Diskussion los, wessen Tier es überhaupt ist, das da auf der spiegelglatten Fläche steht.

Da die vier Kühe Schwestern sind und sich sehr ähnlich sehen, gehen erst einmal alle vier Bauern in ihre Ställe, um nachzuschauen, wo eine Kuh fehlt: Der Stall von Bauer Johann ist leer, also muss es wohl seine Kuh Elsa sein. An sich ist diese Erkenntnis wertlos, schließlich gibt es nichts Wichtigeres als das Tier aus der Gefahrensituation zu befreien. Aber was machen die drei Bauern, deren Kühe im Stall stehen? Sie fangen an, Zäune zu errichten, um zu verhindern, dass auch ihre Kuh auf das Eis läuft. Bauer Johann ist ratlos: Warum helfen ihm die anderen nicht? Ihre Kühe sind doch in Sicherheit, da die Ställe gut verschlossen sind.

Zu allem Überfluss kommt nun auch noch die Sonne raus – wenn sie weiter so scheint, droht das Eis zu schmelzen und Elsa wird im See ertrinken. Sie würden ihm später helfen, versprechen Jonathan, Willy und Piet, aber zuerst müssten sie sich nun mal um ihre eigenen Kühe kümmern und dafür müssten die Zäune fertig werden. Bauern Johann steht untätig daneben, ohne etwas zu unternehmen, also ohne es allein zu probieren oder sich anderweitig Hilfe zu organisieren. Weil die Kuh auf dem Eis nicht auf sein Zurufen reagiert, was Elsa sonst noch nie gemacht habe, kann Johann die anderen Bauern schließlich davon überzeugen, dass es sich gar nicht unbedingt um Elsa handeln müsse, die da auf dem Eis steht – sie könne schließlich auch einfach weggelaufen sein. Dabei ignoriert er die Tatsache, dass alle anderen Kühe der Gegend braun sind, die Kuh auf dem Eis aber weiß ist und einen braunen Fleck auf der Stirn hat. Es kann also nur Elsa sein.

Da die Zäune inzwischen fertig sind, beschließen die vier, Elsa erst einmal woanders zu suchen. »Und wenn wir sie nirgends finden, ist die Kuh auf dem Eis vielleicht doch Elsa«, sagt Johann noch. Aber da die Bauern jetzt einen Plan haben, kann die Kuh auf dem Eis vorläufig noch warten, finden sie – zuerst müssen sie alles daran setzen, um herauszufinden, ob Elsa nicht vielleicht doch woanders ist. Fragt sich nur, ob der Plan aufgeht und wie lange es dauern wird, bis die Kuh auf dem Eis einbricht und in den Tiefen des eiskalten Sees versinkt.

Wenn wir den Film in unseren Trainings oder Seminaren zeigen, erkennen die Teilnehmer gewisse Handlungsweisen aus ihrem Unternehmen oder ihrer Abteilung wieder und sind manchmal sogar ein wenig schockiert, weil ihnen die Mechanismen hinter diesen Handlungen erst durch einen scheinbar simplen Animationsfilm klar geworden sind. »Genauso ist es bei uns im Team auch«, hören wir dann. »Anstatt Probleme anzugehen oder gemeinsam nach Lösungen zu suchen, geht es nur um die Schuldfrage, auch wenn das überhaupt nichts bringt.«

Tatsächlich scheint die Schuldfrage in deutschen Unternehmen sehr beliebt zu sein: Wann immer etwas anders läuft als geplant, ein Projekt nicht rechtzeitig fertig oder ein Budget überschritten wird, ein Fehler im Programm auftaucht oder einfach mal wieder die Spülmaschine in der Kaffeeküche nicht ausgeräumt wurde – sofort geht das beliebte Blame Game los:

Alle Beteiligten weisen die Schuld weit von sich, zeigen dafür lieber mit dem Finger auf andere und schieben kurzerhand der Mitarbeiterin, den Kollegen oder dem Vorgesetzten die Schuld in die Schuhe. Um Lösungen geht es dabei nicht, sondern allein darum, das Blame Game zu gewinnen und um sagen zu können: »Ich war´s jedenfalls nicht!« Jeder scheint nur darauf bedacht zu sein, den eigenen Hintern zu retten oder zumindest in Sicherheit zu bringen – die kritische Situation wird so natürlich nicht gelöst. Genau wie in unserem Film: Statt gemeinsam die Kuh vom Eis zu holen, wird erst einmal geklärt, wem die Kuh überhaupt gehört und alles andere gemacht, nur eben nicht das, was am wichtigsten wäre: Die Kuh unverzüglich zu retten, also erst einmal die akute Gefahrenlage zu entschärfen.

Nur dass wir uns nicht falsch verstehen: Selbstverständlich sollte man beispielsweise nach einer durchgeführten Veränderung im Unternehmen oder Team ganz gezielt einen Prozess des »Lessons Learned« einleiten, das heißt sich damit beschäftigen, was im Verlauf der Veränderung gut oder was weniger gut funktioniert hat und worauf beim nächsten Mal geachtet werden sollte. Nur so kann man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und verhindern, dass sie sich in Zukunft wiederholen. Denn nur, »wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.« (Konfuzius)

In diesem Prozess des »Lessons Learned« sollte die Schuldfrage jedoch keine Rolle spielen, denn das wäre Gift für die weitere Zusammenarbeit: Wer Angst vor Fehlern und damit vor dem Zeigefinger der Kollegen oder des Vorgesetzten hat, wird in Zukunft keine Entscheidung mehr treffen – aber keine Entscheidungen zu treffen bedeutet Stillstand, und dies gefährdet über kurz oder lang den Fortbestand des Unternehmens. Eine Kuh, die nicht mehr gemolken werden kann, weil sie immer noch auf dem Eis steht oder vielleicht schon eingebrochen ist, bringt eben auch keine Erträge mehr ein. […]

Egal vor welcher Herausforderung oder Schwierigkeit man jetzt oder in Zukunft steht – die Kuh muss vom Eis. Dazu gibt es leider keine Alternative, denn Zäune aufstellen, die Augen verschließen oder weglaufen helfen nicht weiter, sondern machen alles nur noch schlimmer. Das Problem wird – ähnlich wie ein Bumerang – immer wieder und dabei jedes Mal womöglich in verschärfter Form zu mir zurückkommen, bis ich es endlich gelöst habe oder die Situation irgendwann so verfahren ist, dass man nichts mehr retten kann. Wenn man es allein nicht schafft, weil man nicht weiß, wie man mit Kühen umgehen soll oder weil man Angst vor ihnen hat oder vielleicht sogar eine Kuhhaarallergie, dann sollte man sich interne oder externe Unterstützung holen. Das ist keine Schande, sondern ein Zeichen von Stärke. […]

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022

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