Beim Lesen der Frage hat so mancher vielleicht gedacht, dass Unstimmigkeiten zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat in der Natur der Sache liegen, schließlich verfolgen die beiden Parteien unterschiedliche Interessen. Und wir müssen durchaus zugeben, dass wir auf unserer, über zwanzigjährigen Reise durch viele Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größen mehr verhärtete Fronten als ein harmonisches Miteinander erlebt haben.
Aber ob das in der Natur der Sache liegt? Ja – wenn die Fronten verhärtet sind. Nein – wenn man gemeinsam in die Zukunft schaut. Oder wie es Ann-Kristin Achleitner, Professorin für Betriebswirtschaftslehre, einmal ausdrückte: »Mitbestimmung vereint und spaltet nicht. Sie setzt sich gemeinsam für das Unternehmensinteresse ein.«
Unserer Erfahrung nach gibt es mehrere Ursachen, warum es dennoch immer wieder zu Konflikten kommt. Hier wäre zum einen der unterschiedliche Fokus zu nennen. Unternehmerisches Denken und Handeln verlangt vom Unternehmer, dass er zeitgleich die drei Perspektiven Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Blick haben muss, wenn er erfolgreich sein will: Zum einen muss er die gegenwärtige Realität bewältigen, dabei gleichzeitig auch Vergangenes respektieren, um Bewahrenswertes wie Traditionen oder Werte mit in die Zukunft zu nehmen. Die Ausrichtung auf die Zukunft ist der wichtigste Punkt, insofern erfüllt der Umgang mit der Realität nur einen einzigen Zweck – die Zukunft zu gestalten, um sie dadurch zu sichern. Ein Großteil der Betriebsräte, die wir bisher kennengelernt haben, fokussiert sich jedoch hauptsächlich auf das Hier und Jetzt. Was sich im Achtsamkeitstraining als gut erwiesen hat, ist im Bereich der strategischen Unternehmensplanung alles andere als gut. Es ist ein bisschen so, als würde jemand eine ganze Torte auf einmal essen. Das mag sich in diesem Moment vielleicht gut anfühlen, aber am nächsten Tag hat man nichts mehr von der Torte, abgesehen davon, dass der Zuckerschock sehr schädlich für den Körper ist.
Die zweite Ursache für Konflikte zwischen Unternehmensführung und Betriebsrat ist die Tatsache, dass sich viele Führungskräfte weder mit der Rolle noch mit den Aufgaben eines Betriebsratsmitglieds auseinandergesetzt haben, geschweige denn das Betriebsverfassungsgesetz kennen. Wie aber will ich meinen Betriebsrat bei seiner Arbeit unterstützen, wenn ich seine Aufgaben nicht verstanden habe? […]
Daher an dieser Stelle ein dringender Appell an jeden Unternehmer, Inhaber oder Geschäftsführer eines Unternehmens: Sie vertreten den Arbeitgeber, und jeder Ihrer Arbeiternehmer ist – im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes – ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin. Das Hauptaugenmerk von Führung ist die Arbeit am Menschen und mit dem Menschen, um diesem die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln. Das verstehen wir unter Leadership. Auch Ihr Betriebsrat bezieht nach wie vor sein Gehalt vom Unternehmen, ist also nach wie vor ein Mitarbeiter. Deshalb obliegt es der Verantwortung und Fürsorgepflicht einer Geschäftsführung, sich auch um den Betriebsrat zu kümmern. Das ist eine Tatsache! Wenn Sie nicht mit Ihrem Betriebsrat sprechen, dann werden es andere tun, und zwar in der Regel die Gewerkschaftsvertreter. Aber dann wird es, so jedenfalls unsere Erfahrung, politisch. Da die Politik, wie andere Systeme auch, jedoch das Bestreben hat, sich erhalten, liegt der Fokus des Unternehmens dann garantiert nicht mehr in der Zukunft – vielmehr geht es vor allem darum, die nächsten Konflikte auszufechten. Ein solches Szenario sollte unbedingt verhindert werden!
Als wir vor einiger Zeit einen Workshop für den Betriebsrat eines mittelständischen Unternehmens aus der Metallindustrie moderierten, sagte uns ein Betriebsratsmitglied, dass wir doch ganz offensichtlich pro Arbeitgeber ausgerichtet seien. »Aber das geht wohl nicht anders«, schlussfolgerte er, »schließlich werden Sie ja vom Arbeitgeber bezahlt.« »Ob Sie es nun glauben oder nicht«, erwiderten wir, »wir sind weder pro Arbeitgeber noch pro Arbeitnehmer eingestellt. Vielmehr sind wir pro Unternehmen, pro Standort eingestellt. Wem wir dafür gegebenenfalls wehtun müssen, ist uns ziemlich egal. Wir sind Berater und nur unserer Mission verpflichtet. Und unsere Mission ist, für unseren Kunden so einzutreten, als handele es sich um unser eigenes Unternehmen. Unsere Kunden buchen einen konfrontativen Sparringspartner, nicht einen angepassten Trainer oder Coach. Da wir nah am Menschen arbeiten, bauen wir Beziehungen auf, die von Vertrauen und Wertschätzung geprägt sind. Und wenn es sein muss, sind wir voller Wertschätzung einem Betriebsratsmitglied gegenüber genauso unbequem wie einem Geschäftsführer. Darauf können Sie sich verlassen.« Wir konnten das skeptische Betriebsratsmitglied davon überzeugen, dass wir durch unseren Slogan »Ihr nächster Schritt ist unser Ziel!« ganz klar auf die Zukunft ausgerichtet sind, und das sollte eine wertschätzende Beziehung, ein gutes Miteinander zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung ebenfalls sein.
Schauen wir uns nun die dritte Ursache an, weshalb es oft nicht zu einem guten Miteinander kommt: Betriebsräte werden gewählt. Bitte nicht falsch verstehen – wir haben nichts gegen Demokratie, aber nur weil man für eine Position gewählt wird, ist man nicht automatisch in der Lage, diese auch adäquat auszuüben. Hier geht es Betriebsräten nicht anders als Politkern: Nach der (Erst-)Wahl tragen sie eine enorme Verantwortung, wissen aber oftmals nicht, was nun auf sie zukommt. Das geht auch Menschen so, die in einem Verein einen Posten übernehmen oder ein Ehrenamt ausüben.
Jede Führungskraft eines Unternehmens hat sich jedoch mindestens zehn Jahre auf diese Position vorbereitet und dabei verschiedene Führungsebenen durchlaufen, womöglich sogar unterschiedliche Unternehmensbereiche geleitet. Erst dann kommt diese Führungskraft im Management an und vielleicht sogar in die Geschäftsführung oder in den Vorstand eines Unternehmens. Werden Mitarbeiter in den Betriebsrat gewählt, haben sie wenig oder gar keine Zeit, sich auf diese neue Aufgabe vorzubereiten und müssen so in den Diskurs mit Führungskräften, die – wie dargestellt – bestens vorbereitet sind. Neu gewählte Betriebsräte verstehen daher das System Unternehmen in seiner Gänze nicht. Wie könnten sie auch? […]
Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022