Hand aufs Herz: Wer hat beim Lesen der letzten Frage [Was erwarten Gen Y und Z von Unternehmen und Führungskräften?] gedacht, dass das mit der Wohlfühlatmosphäre für Gen Z doch echt ein bisschen übertrieben ist? Dass Lehrjahre schließlich keine Herrenjahre sind? Oder dass es doch wohl nicht zu viel verlangt ist, auch nach Feierabend noch kurz seine Mails zu checken?

Aus den Gesprächen mit unseren Kunden kennen wir solche Diskussionen zur Genüge. Viele Arbeitgeber beschweren sich beispielsweise bei uns, dass für Gen Z, wie im vorigen Kapitel beschrieben, das Thema Work-Life- Separation unverzichtbar ist: Überstunden, Anrufe oder Mails nach Feierabend sowie Verlegung von privaten Verabredungen aufgrund von Termindruck im Job sind bei dieser Generation nicht gern gesehen, und das kommunizieren sie nicht nur, sondern treten dabei oftmals auch sehr selbstbewusst auf.

Nun könnte man sich stundenlang darüber aufregen, aber im Grunde genommen bleibt den Unternehmen nichts anderes übrig als darauf zu reagieren. Denn der Fachkräftemangel macht sich schon jetzt sehr deutlich in Deutschland bemerkbar und hat inzwischen einen neuen Höchststand erreicht: Derzeit gibt es 558.000 Vakanzen in diesem Bereich, und das trotz Corona-Pandemie und Krieg in der Ukraine.[1] Diese Entwicklung wird sich, auch das haben wir im letzten Kapitel bereits angesprochen, in den kommenden Jahren noch verstärken.

Insofern haben die Generationen Y und Z allen Grund, selbstbewusst aufzutreten und Forderungen zu stellen, denn sie sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt wie kaum eine Generation vor ihnen: »Vor allem die Generation Z findet hervorragende Perspektiven in Ausbildung und Beruf vor. […] die jungen Leute müssen nicht mehr als Bittsteller bei Firmen und Behörden auftreten. Die demografische Entwicklung spielt ihnen in die Hände. Die gut ausgebildeten 60 Prozent von ihnen […] haben die freie Wahl.«[2]

Kein Unternehmen kann es sich in Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels also noch leisten, die Wünsche und Bedürfnisse der jungen Generation zu ignorieren – ob ihnen das nun passt oder nicht. Daher müssen die Arbeitgeber von heute viel mehr Zeit und Geld investieren, um sich im »War for Talents« Mitarbeiter für ihr Unternehmen zu sichern.  Aber sie suchen natürlich nicht irgendwen, den sie irgendwo ans Band stellen können, sondern hoch qualifizierte, gut ausgebildete Mitarbeiter, die darüber hinaus noch ein möglichst hohes Maß an Engagement zeigen sollten. Wenn ich solche Mitarbeiter in meinem Unternehmen haben möchte, dann muss ich mir nur folgende simple Formel merken: E2 = E3.

E2 steht in diesem Fall für Employee Engagement, also Mitarbeiterengagement, und E3 für »Extreme Employer Engagement«, also extremes Engagement des Arbeitgebers bezüglich seiner Mitarbeiter. Je engagierter meine Belegschaft sein soll, desto engagierter muss ich demnach als Arbeitgeber sein. Nie war in diesem Kontext Employer Branding so wichtig wie heute, denn was fürs Marketing gilt, gilt gleichermaßen fürs Recruiting: Mit einer starken Marke verkaufen sich Produkte grundsätzlich besser, folglich lassen sich auch offene Stellen mit einer starken Arbeitgebermarke im Hintergrund schneller besetzen. Daher sind Unternehmen mehr denn je gefragt, ihre eigene Marke zu stärken und sich gegenüber potenziellen Bewerbern als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren. Nur so können sie neue Talente für ihr Unternehmen begeistern und rekrutieren. […]

Insofern ist man gut beraten, wirklich alles zu tun, um seine Mitarbeiter zu halten, denn das beste Recruiting ist immer noch eine gute Mitarbeiterbindung. »Wir machen doch schon total viel«, hören wir in unseren Gesprächen immer wieder. »Ist das tatsächlich so?«, fragen wir dann und empfehlen den Führungskräften, sich etwas Zeit zu nehmen, um sich fünf ganz einfache Fragen zu stellen:

  1. Wie oft lächeln meine Mitarbeiter eigentlich während der Arbeit?
  2. Arbeiten meine Mitarbeiter gerne für ihre Führungskraft und/oder für das Unternehmen?
  3. Wann habe ich das letzte Mal wirklich eine Überraschung erlebt? Wann sind meine Mitarbeiter mit Ideen auf mich zugekommen, die wirklich innovativ waren und vor allem einen großen Mehrwert für das Unternehmen hatten?
  4. Wie viele neue Bewerber bringen mir meine Mitarbeiter? Empfehlen sie mich tatsächlich weiter?
  5. Kenne ich meine Mitarbeiter überhaupt richtig? Höre ich ihnen wirklich zu? […]

Es nützt außerdem wenig, mangelndes Employer Engagement mit einem hohen Gehalt kompensieren zu wollen, sich also quasi freizukaufen, denn Geld ist nicht immer alles. Heutzutage geht es vielen Bewerbern auch um Fragen wie: Welches Ziel verfolgt das Unternehmen? Mit welcher Führungsstrategie? Geht es nur um reine Gewinnmaximierung oder ergibt meine Arbeit auch einen tieferen Sinn? Nicht nur die jungen Generationen stellen den Unternehmen diese Fragen, auch die älteren Semester wünschen sich eine sinnstiftende Aufgabe, mit der sie sich identifizieren können. Längst geht es nicht mehr ausschließlich um Dienst nach Vorschrift oder um einen möglichst hohen Verdienst, mit dem man das Eigenheim abbezahlen kann. Viel wichtiger ist es, welche Ziele das Unternehmen verfolgt, für das sie arbeiten. Man spricht in diesem Zusammenhang von der »Purpose Driven Organisation«, also von der zweckgetriebenen Organisation: »Der Anteil an Unternehmen, die mit ihrer Arbeit […] einen sozialökologischen Mehrwert verfolgen, wächst stark an. Viele Menschen wollen heute bei einem Unternehmen arbeiten und einkaufen, in dem ökologisch und menschlich gedacht wird. Bei einem Unternehmen, wo weder die Mitarbeiter noch die Zulieferer oder die Kundinnen über den Tisch gezogen werden. Das heißt nicht, dass Geld und Status heute als Motivationsquelle ausgedient hätten. Aber viele Menschen sind bereit, bei Geld und Status Einbußen zu machen, wenn sie ihre Aufgabe als sinnvoll erachten.«[3] […]

Im Klartext bedeutet das: 85 Prozent der deutschen Belegschaft sind ohnehin schon tendenziell eigenkündigungsgefährdet. Ist das nicht eine erschreckende Zahl? Zusammen mit der Tatsache, dass sich die jungen, gut ausgebildeten Bewerber die Unternehmen aussuchen können, für die sie tätig sein möchten, wird daraus ein gefährlicher Cocktail, der den dringenden Handlungsbedarf für Unternehmen verdeutlicht. Wenn der zukünftige oder aktuelle Arbeitgeber sich nicht genug engagiert, dann zieht man eben weiter. Auswahl gibt es ja schließlich genug!

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022

[1] Vgl. zeit.de, Fachkräftemangel. Zahl der offenen Stellen für Fachkräfte erreicht Höchststand, veröffentlicht am 14.05.2022.

[2] zeit.de, Nicht ohne meine Eltern. Generation Z, veröffentlicht am 26.11.2018.

[3] zeit.de, Sinn ist die beste Motivation überhaupt. Zufriedenheit im Job, veröffentlicht am 13.03.2019.

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