Wer meint, er hätte noch nie verhandelt, der irrt. Jeder von uns verhandelt – ob bewusst oder unbewusst – nahezu täglich. Sogar Kinder verhandeln, und das sogar schon im Alter von zwei Jahren. Dabei geht es dann zum Beispiel darum, wie lange sie aufbleiben oder wie viel Zeit sie an der Konsole verbringen dürfen. Und es ist erstaunlich, wie erfolgreich sie damit sind. […]

Uns fällt es leichter Ja zu sagen oder mit jemandem zusammenzuarbeiten, der vorher etwas Nettes für uns gemacht hat. Kinder nutzen unbewusst das Gesetz der Reziprozität, das bei fast allen verankert ist. Wir sagen in diesem Kontext immer: »Das Leben ist ein Geben und Nehmen – in genau dieser Reihenfolge.« Kunden sind für uns nicht die, die uns bezahlen, sondern die, für die wir etwas tun können. […] . Aber auch beim Verhandeln zahlen sich kleine und große Gefälligkeiten, die in der Vergangenheit geleistet wurden, oftmals aus. […]

Menschen sind emotional, Emotionen machen unser Leben erst lebenswert – die Qualität der Emotion bestimmt unsere Lebensqualität: Emotionen können positiv sein und uns durch die Ausschüttung von Endorphinen wahre Glücksmomente bescheren. Oder sie sind negativ, dann durchströmen Stresshormone unseren Körper und Geist. Selbst logische oder rationale Entscheidungen geben uns ein gutes Gefühl: ein Gefühl der Sicherheit oder das gute Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Jede Beziehung, die wir eingehen, ist ebenfalls von Emotionen geprägt. Daher ist eine positive emotionale Beziehung auch bei Verhandlungen ein entscheidender Faktor, damit ein guter Deal zustande kommt, insofern ist der Beziehungsaufbau der Grundstein jeder erfolgreichen Verhandlung. Selbstverständlich braucht der Aufbau einer solchen Beziehung Zeit und gemeinsame Erfahrungen. Gleichzeitig sollte die Beziehung von Vertrauen und einem partnerschaftlichen Verhältnis geprägt sein und nicht von einer klassischen Kunden-Lieferanten-Beziehung ausgehen: Für eine Verhandlung ist eine Beziehung auf Augenhöhe unerlässlich. […]

Wichtig ist jedoch, sich von vornherein die Frage zu stellen, mit welcher Haltung ich in eine solche Beziehung hineingehe. Unabhängig von der Haltung meines Verhandlungspartners sollte ich meinem eigenen Mindset in jedem Fall treu bleiben. Entweder bekomme ich mein Verhalten oder meine Einstellung bezüglich einer partnerschaftlichen Beziehung gespiegelt oder aber ich vertraue darauf, dass mein Verhandlungspartner mit der Zeit meine Haltung wertzuschätzen weiß und sich darauf einlässt.

Erfolgreich verhandeln lässt sich außerdem nur mit einer klaren Zielsetzung. Jeder, der in eine Verhandlung geht, sollte sich im Vorfeld bewusst sein, was er erreichen möchte. Es muss genau definiert werden, welche Resultate mindestens erzielt werden wollen und welche tatsächlich erstrebenswert sind. Diese Minimum-und-Optimal-Ziele sollten vorher auch unbedingt in der eigenen Organisation geklärt werden.  Kaum etwas ist schädlicher für eine Verhandlung, und damit für die partnerschaftliche Beziehung mit meinem Verhandlungspartner, als mit einem Ergebnis aus einer Verhandlung zu kommen, das zwar mich selbst zufriedenstellt, das im Nachhinein jedoch von der eigenen Organisation kassiert wird.

In diesem Zusammenhang spielt die Win-win-Strategie eine wichtige Rolle, manche kennen sie auch unter dem Namen Doppelsieg-Strategie. Ihr Ziel ist es, dass alle Beteiligten einen gewissen Nutzen erzielen. Jeder Verhandlungspartner respektiert außerdem sein Gegenüber und versucht, dessen Interessen ausreichend zu berücksichtigen. Im Grunde genommen handelt es sich hier aber lediglich um Win-win-Ergebnisse oder, schlicht und ergreifend, auch nur um Kompromisse. Ein Kompromiss bedeutet jedoch, sich von seiner Ideallösung zu verabschieden. Wenn beide Parteien so handeln, entsteht ein Kompromiss – ein freundlicher Ausdruck für ein mittelmäßiges Ergebnis.

Allerdings ist die Bezeichnung Win-win-Strategie oder Win-win-Ergebnis für ein solches Verhandlungsresultat nicht angemessen. Der Idealfall wäre vielmehr, einen Konsens zu finden, also einen gemeinsamen dritten Weg, der besser ist als die beiden ursprünglichen Zielsetzungen, mit denen beide Parteien in die Verhandlung gegangen sind. Erst dann entsteht ein Win-win-Ergebnis. Gehe ich bereits mit dem Wissen und der Einstellung in eine Verhandlung, dass meine vorbereitete Strategie lediglich ein Ausgangspunkt oder eine Diskussionsbasis ist, nicht aber die Ultima Ratio, und bin ich von Anfang an offen für diesen dritten Weg oder habe ich sogar von Anfang an das Ziel, diesen dritten Weg gemeinsam mit meinem Verhandlungspartner zu finden, dann, und auch nur dann, verfolge ich eine Win-win-Strategie.

Bei Verhandlungen kommt es auch sehr stark auf die Körpersprache an. Sowohl der gezielte Einsatz der eigenen Körpersprache kann ein Game-Changer sein, aber auch die Fähigkeit des Verhandlers, die Körperspra-che seines Gegenübers lesen zu können. Um erfolgreich zu verhandeln, sollte man daher in der Lage sein, insbesondere die Basis-Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren.

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“  von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022