Soweit wir wissen, gehört »Rabenmutter« zu den Wörtern der deutschen Sprache, die in den meisten anderen Sprachen keine begriffliche Entsprechung haben. Früher waren damit ganz allgemein Mütter gemeint, die ihre Kinder vernachlässigten, heute werden so vor allem berufstätige Frauen bezeichnet, die sich angeblich nicht genug um ihre Kinder kümmern, weil ihnen ihre Karriere wichtiger ist. Analog zur »Rabenmutter« existieren im Deutschen zwar auch die Ausdrücke »Rabenvater« oder »Rabeneltern«, allerdings kommen sie so gut wie nie zur Anwendung. Auch im 21. Jahrhundert scheinen die alten Geschlechterrollen also noch nicht gänzlich überwunden zu sein – noch immer wird vor allem von den Müttern erwartet, dass sie sich um den Nachwuchs kümmern.

Dementsprechend sehen sich berufstätige Frauen, die in der heutigen Zeit Kinder bekommen, mit Druck von allen Seiten konfrontiert. Zunächst einmal ist da ihre neue Rolle als Mutter, die natürlich sehr schön, aber auch genauso fordernd sein kann. Und so haben viele Frauen den Anspruch, alles möglichst perfekt zu machen, eine perfekte Mutter zu sein. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, um wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren? Will ich überhaupt wieder arbeiten? Und wenn ja, in welchem Umfang? Das sind Fragen, die die Mütter umtreibt, und dabei sitzen sie oftmals zwischen allen Stühlen: Einerseits hat das Kind Priorität und sie möchten es nicht zu früh in fremde Hände geben. Hier kommt oft noch Druck aus dem familiären oder freundschaftlichen Umfeld hinzu, das wenig Verständnis dafür aufbringt, wenn junge Mütter relativ früh an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Auf der anderen Seite bauen aber auch die Arbeitgeber nicht selten Druck auf und bringen die Frauen dadurch in eine Art Zugzwang, denn diese machen sich Sorgen, was aus ihrer hart erarbeiteten Position wird, wenn sie ein oder zwei Jahre nicht im Betrieb sind. Sie fragen sich, ob sie nach ihrer Rückkehr wieder genau dort weitermachen können, wo sie vor der Elternzeit aufgehört haben. Oder hat sich ihr Tätigkeitsschwerpunkt während ihrer langen Abwesenheit derartig weiterentwickelt, sodass sich der Wiedereinstieg wesentlich komplizierter gestaltet, als sie es vorher gedacht hatten? Außerdem wollen oder können frischgebackene Mütter während der ersten Jahre nicht wieder Vollzeit arbeiten, wodurch sich aus karrieretechnischer Sicht weitere Probleme ergeben können.

Man muss nicht viel Fantasie haben, um sich vorzustellen, was das für ein Spagat für berufstätige Mütter sein kann: Sie müssen eine Lösung finden, die sowohl das Beste für ihr Kind ist, aber gleichzeitig auch für sich selbst und ihre Arbeit. Einerseits wird von ihnen erwartet, eine perfekte Mutter zu sein, andererseits müssen sie – um weiter Karriere zu machen – so gut und so viel arbeiten, als seien sie kinderlos. Arbeiten Mütter nicht, werden sie natürlich ebenfalls kritisiert, da sie angeblich keine beruflichen Ambitionen haben und sich einfach darauf verlassen, von ihrem Partner finanziell versorgt zu werden. Anscheinend können es Frauen in dieser Hinsicht niemandem recht machen.

Wirft man einen Blick auf die Statistik, so zeigt sich, dass sich die Hälfte aller deutschen Mütter gegen die Doppelbelastung von Familie und Beruf entschieden haben, um sich ganz der Familienarbeit zu widmen. Wir haben hier mit Absicht das Wort »Arbeit« verwendet, denn Muttersein ist ein sehr anspruchsvoller Job! Es sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass Carearbeit auch Arbeit ist und nicht etwa »Gedöns«, wie es der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einmal abfällig sagte. Allerdings sind nur fünf Prozent der Frauen, die wegen der Kinder zu Hause bleiben, zufrieden mit ihrer Situation.  Diese Frauen werden auch Opting-out-Mütter genannt, also gut ausgebildete Frauen, die mit der Geburt ihres ersten Kindes die Erwerbstätigkeit aufgeben und in Vollzeit für ihre Familien da sind.  Aber dieses Ein-Verdiener-Modell muss man sich natürlich auch leisten können! Daher stellt die Unvereinbarkeit von Erwerbs- und Carearbeit viele Familien vor scheinbar unlösbare Konflikte.

Außerdem lässt die geringe Zufriedenheitsquote mit dem Dasein als Hausfrau und Mutter die Vermutung zu, dass viel mehr Mütter gern am Arbeitsleben teilnehmen würden, dies aber aufgrund verschiedener Faktoren nicht möglich ist. Oftmals scheitert es an fehlenden staatlichen Betreuungsplätzen – Deutschland liegt hier weit hinter den meisten europäischen Ländern zurück. […]

Für in Deutschland ansässige Unternehmen bedeuten diese Zahlen, dass sie stärker gefordert sind, die staatlichen Defizite selbst zu kompensieren, wenn sie ein Brain-Drain ihrer gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen verhindern möchten. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels können sie nun mal nicht leichtfertig auf fünfzig Prozent ihrer Fachkräfte verzichten. Doch Eigennutz ist unserer Meinung nach nicht der ausschlaggebende Faktor. Für die Unternehmen sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, Mütter in ihrem beruflichen Fortkommen zu unterstützen. […] Und ein bisschen Verständnis kann natürlich ebenfalls nicht schaden! Zumal es manchmal nur Kleinigkeiten sind, die es Müttern mit jungen Kindern erleichtern, den Stresslevel zu reduzieren und den Wiedereinstiegsprozess nach der Erziehungszeit positiv zu gestalten.

Stress ist in diesem Kontext ein wichtiger Faktor, wenn man bedenkt, dass berufstätige Frauen mit einem Kind um 18 Prozent gestresster sind als Kolleginnen und Kollegen ohne Kinder. […] Knapp 40 Prozent gestresster sind arbeitende Frauen mit zwei Kindern. Dies zeigte eine Studie der Universität in Manchester und des Institute for Social and Economic Research der Universität von Essex. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass weder Homeoffice noch Gleitzeit einen positiven Effekt auf den Stressfaktor haben. Die Doppelbelastung bleibt, denn neben den Stunden im Büro oder im Homeoffice haben Mütter eben einen weiteren Vollzeitjob: ihr Kind. Das einzige Arbeitszeitmodell, das laut der Studie bewiesenermaßen zur Stressreduktion bei Mitarbeiterinnen mit jungen Kindern beiträgt, ist die Teilzeitarbeit[1].  […]

 

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022

[1] Chandola, T., Are flexible Work Arrangements Associated with Lower Levels of Chronic Stress-Related Biomarkers? A study of 6025 Employees in the UK Household of Longitudinal Study, Sociology 2019.