[…] Das Thema Glück ist eine Frage der Haltung. Hier geht es vor allem um die Akzeptanz des Status quo – für uns ein elementarer Baustein, um glücklich sein zu können. Das hat nichts mit Resignation zu tun, sondern bedeutet vielmehr die Akzeptanz von Dingen, die ich ohnehin nicht ändern kann. Es macht einfach keinen Sinn, immer wieder darüber nachzudenken – ständiges Grübeln wirkt eher wie ein Brandbeschleuniger auf negative Gefühle. Außerdem hindert es mich daran, die Vergangenheit abzuhaken und den Blick nach vorn zu richten.
Die Briten drücken diese Lebensweisheit sehr treffend mit folgendem Sprichwort aus: „Love it, change it or leave it.“ Doch gerade in Veränderungsprozessen hat nicht jeder Mitarbeiter die Option des „change it“. Je nachdem, auf welcher Hierarchieebene er sich befindet, kann er Entscheidungen nicht beeinflussen, sondern nur als gegeben hinnehmen. Ihm bleibt also lediglich die Wahl zwischen „love it“ oder „leave it“. Das muss er akzeptieren und sich überlegen, wie er in Zukunft damit umgehen möchte. Der Vergangenheit nachzutrauern hat jedenfalls noch niemandem geholfen.
Wenn schon ein Blick zurück, dann sollte er ausschließlich auf die positiven Dinge gerichtet sein: das „Reverse Gap“. Viele Menschen machen sich jedoch vor allem Gedanken um die Zukunft. Im Prinzip ist das eine gute Sache, bedeutet aber gleichzeitig, dass auch die Belohnung für erreichte Ziele ausschließlich in der Zukunft stattfindet. In diesem Zusammenhang hören wir oft Sätze wie: „Wenn ich erst mal im Ruhestand bin, kümmere ich mich mehr um meine Familie.“ Oder: „Ich muss erst noch mein aktuelles Projekt abschließen, dann lasse ich es etwas ruhiger angehen.“
Das Problem ist nur, dass wir bei dieser Sichtweise den Zustand des Belohnens in der Regel gar nicht mehr erreichen, denn immer, wenn wir kurz davorstehen, setzen wir uns das nächste Gap. Dieses Wort bedeutet auf Deutsch Kluft oder Lücke – in unserem Kontext ist damit der zeitliche Abstand zwischen der Gegenwart und dem Zeitpunkt der Belohnung gemeint. Dieser Zustand wird auch „Future Gap“ genannt. Allerdings führt eine solche Einstellung dazu, dass ich praktisch permanent unzufrieden bin. Zumindest kann ich heute nicht glücklich sein, weil ich mich nur auf die Zukunft fokussiere. Es mag sein, dass ich Zufriedenheit empfinde, aber eben kein Glück.
Aus diesem Grund präferieren wir das „Reverse Gap“: Bevor neue Ziele geplant werden, sollte man gedanklich ein paar Jahre zurückgehen und sich fragen: Was ist heute besser als vor zwei, drei oder vier Jahren? Was hat sich in dieser Zeit zum Positiven verändert? Was macht mich im Vergleich zu damals heute glücklich? Durch den Fokus auf das Positive in der Vergangenheit kommt ein Gefühl von Glück, Stolz und Zufriedenheit auf. Wenn ich anschließend beginne, mein „Future Gap“ zu planen, dann werde ich das automatisch anders tun, denn durch das „Reverse Gap“ ist mir bewusst geworden, welche Dinge mir wirklich wichtig sind und dass ich sie in Zukunft wieder berücksichtigen möchte. Natürlich will ich meine Ziele nach wie vor erreichen, auch wenn sie vielleicht nicht mehr ganz so ambitioniert sind wie früher. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, ich plane so, dass ich auch in der Zeit davor, also im Gap, glücklich bin und dass sich dadurch die Lücke oder Kluft schließt.
Dieses Modell funktioniert natürlich besonders gut, wenn Menschen in der Vergangenheit auch tatsachlich eine erkennbar positive Entwicklung durchlebt haben. Doch selbst nach schweren Schicksalsschlägen können sich – mit etwas Abstand – auch positive Erkenntnisse herauskristallisieren: Ich habe zwar Blessuren erlitten, dadurch wurde mir aber auch klar, wer meine Freunde sind und auf wen ich mich verlassen kann. Selbst negative Erfahrungen können also durchaus einen positiven Mehrwert haben, wenn ich gestärkt aus ihnen hervorgehe. Vielleicht schaut man danach nicht mehr so sehr auf den erreichten Wohlstand, den höheren Lebensstandard oder die bessere Position im Unternehmen, sondern richtet seinen Blick vielmehr darauf, dass man sich persönlich weiterentwickelt hat.
Auszug aus dem Buch „Führung ist keine Illusion – Erlebnisse, Erfahrungen und Erzählenswertes aus zwanzig Jahren Beraterpraxis“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2020