Seine unbedingte Hingabe für die von ihm ausgeführte Tätigkeit gibt der Leader an sein Umfeld weiter. Dadurch gelingt es ihm auch, ein Bild der Zukunft zu zeichnen – eine unverzichtbare Eigenschaft, wenn es um Employee Engagement geht. Natürlich haben auch Manager Visionen, doch sie unterscheiden sich von denen des Leaders in einem entscheidenden Punkt: Die Visionen des Managers sind rationaler Art und deshalb vielleicht auch eher als Ziele zu bezeichnen, während der Leader ein klares Bild vor Augen hat.
Ein Beispiel: Wenn ein Unternehmen für Systemgas­tronomie in den nächsten fünf Jahren die Anzahl seiner Restaurants in Deutschland auf 200 erhöhen will, wer-den dem Manager sofort Zahlen und Daten durch den Kopf gehen.
Im Kopf des Leaders hingegen entsteht ein ganz klares Bild der Zukunft. Eine solche Visualisierung löst immer Emotionen aus, und beim Leader ist diese Emotion vor allem seine Leidenschaft, die ihm die Möglichkeit gibt, sich im wahrsten Sinne des Wortes für etwas zu begeistern. Diesen Geist, den er in sich trägt, wird er auf seine Mitarbeiter übertragen, bis auch alle anderen ein klares Bild davon haben, wie es sein wird, wenn die Vision – in unserem Beispiel die Eröffnung des 200. Restaurants – erreicht worden ist. Oder wie es der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry einmal ausdrückte:
»Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen [Manager], sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer [Leader].«
Das vom Manager gesetzte Ziel beantwortet also hauptsächlich die Frage: »Was wollen wir erreichen?« Die Fragestellung des Leaders ist eine andere: »Warum wollen wir es erreichen?« Deshalb verstehen wir unter Dedication das, was zunächst dem Leader selbst die Frage nach dem Warum beantworten soll, damit er diesen Spirit an seine Mitarbeiter weitergeben kann, denn auch sie müssen wissen: »Was ist unser Antrieb bei der Sache?« Dieser Antrieb ist ganz individuell und kann nicht von Kollegen oder Vorgesetzten einfach unreflektiert übernommen werden. Eine Vision muss zu mir passen, sonst funktioniert es nicht.
Für Natalia, Führungskraft bei einem mittelständischen Unternehmen für Metallverarbeitung und Oberflächentechnik, war diese Erkenntnis eine große Erleichterung. Als wir ihr zu Beginn des gemeinsamen Coachings die Frage stellten, welche Vision sie habe, zuckte sie regelrecht zusammen und meinte dann: »Ich hatte schon befürchtet, dass Sie mir diese Frage stellen würden. Diese blöden Visionen verfolgen mich regelrecht … Ständig wird man danach gefragt, aber ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Ich habe einfach keine Vision. Dabei sollte doch jeder eine haben, das hört man immer wieder. Mir ist das total peinlich. Alle meine Kollegen können ihre Visionen wie aus der Pistole geschossen zum Besten geben – Haus, Porsche, Boot –, nur ich kann zu dem Thema nie was sagen. Das ist echt ein Makel an mir, denn wenn ich keine Vision habe, dann weiß ich ja auch nicht, in welche Richtung ich gehen soll, oder?«
Zuerst machten wir Natalia deutlich, dass eine Vision nicht notwendigerweise ei-ne große Sache sein muss und dass sie vor allem sehr persönlich ist. Dann haben wir sie gebeten, über folgende Fragen nachzudenken und nach jeder Frage eine kleine Pause gemacht: »Warum gehe ich jeden Tag in die Firma?« – »Was gibt mir meine Arbeit überhaupt?« – »Warum nehme ich den ganzen Stress in Kauf und all die Überstunden?« – »Warum tue ich mir das Ganze eigentlich noch an?« Wir konnten sehen, dass es in Natalia arbeitete und plötzlich sagte sie strahlend: »Ja, wenn das so ist, dann habe ich doch eine Vision!« Nun erzählte sie uns, dass es ihr vor allem darum ging, ihrer Tochter eine gute Ausbildung zu ermöglichen: »Wissen Sie, ich habe ja selber auch studiert, aber bei mir war das mit großen Entbehrungen
verbunden. Mein Vater starb früh, Geld war bei uns immer knapp – deshalb musste ich mich echt durchbeißen, um dahin zu kommen, wo ich heute bin. Das soll meiner Tochter anders gehen, sie soll sich voll und ganz auf ihre Ausbildung konzentrieren können und sich dabei keine Sorgen um die Finanzierung machen.«
Für Natalia war dieses Gespräch Erleuchtung und Erleichterung zugleich, denn ihr wurde bewusst, dass ihr überhaupt nichts fehlte. Schon lange hatte sie eine Vision gehabt, nur war sie sich dessen nicht bewusst gewesen – sie hatte sich eingeredet (oder einreden lassen), dass so eine Vision etwas ganz Großes sein müsse (mindestens ein Ferienhaus auf Mallorca!) und sich dabei immer mit ihren Kollegen
verglichen, anstatt auf sich selbst und ihre individuelle Situation zu schauen. Nun war ihr endlich klargeworden, dass eine gute, sorgenfreie Ausbildung für ihre Tochter Antrieb genug war, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen. Und wenn das nichts »Großes« sein soll, dann wissen wir es auch nicht … Wenn es um ihre Visionen geht, denken auch Unternehmen gern in den olympischen Kategorien »höher, schneller, weiter«. Ob das zum Unternehmen und seinen Mitarbeitern überhaupt passt, wird oftmals außer Acht gelassen. So hören wir nicht selten Visionen wie »Bis Ende dieses Jahrzehnts werden wir Marktführer sein!« oder »In den nächsten fünf Jahren wollen wir unsere Belegschaft verdoppeln und den höchsten Umsatz in unserer Branche erwirtschaften!«
Dabei kann eine Vision auch durchaus sein, ein erfolgreiches Unternehmen zu führen, in dem glückliche und zufriedene Menschen arbeiten, die ihre berufliche Heimat gefunden haben. Die daraus entwickelte Strategie könnte folgendermaßen lauten: »Auch in Zukunft wollen wir im Mittelstand bleiben, denn wenn wir in Konzernstrukturen gehen, werden wir – aufgrund unserer Größe – den familiären Umgang wahrscheinlich nicht mehr gewährleisten können, sodass es unseren Mitarbeitern schwerfallen wird, auch weiterhin ihre berufliche Heimat bei uns zu finden.« Das mag sich für manche vielleicht zu simpel oder zu wenig ambitioniert anhören, doch was spricht eigentlich dagegen?

Quelle: Workbook Dedication – Die Hingabe zur Aufgabe, mit dem Herzen dabei sein, 24 Stunden am Tag (© 2018 Gianni, Jan & Marcello Liscia)