Wenn wir von Unternehmen engagiert werden, dann hat das häufig folgenden Grund: Führungskräfte sind mit dem Verhalten ihrer Mitarbeiter unzufrieden – sie vermissen Werte wie Offenheit, Teamfähigkeit, Respekt, Höflichkeit oder Ehrlichkeit. Auch wenn wir die Antwort eigentlich schon kennen, stellen wir im ersten Gespräch trotzdem zuerst folgende Frage: »Spielen die von Ihnen genannten Werte schon bei der Auswahl neuer Mitarbeiter eine Rolle?« »Beim Onboarding ist das durchaus ein Thema – aber bei der Auswahl? Nein, eher nicht«, hören wir dann.

Für uns ist es nur schwer zu verstehen, warum das Thema »Cultural Fit« beim Recruiting so wenig Beachtung findet. Wörtlich übersetzt bedeutet »Cultural Fit« etwa »kulturelle Übereinstimmung« und beschreibt, inwieweit die Wertevorstellungen oder Handlungsweisen von Arbeitgebern mit denen ihrer Beschäftigten bzw. Bewerber übereinstimmen.

Werte sind jedoch nicht mit Prinzipien zu verwechseln: Prinzipien sind sogenannte Kernwerte oder Grundsätze, die uns ein Leben lang begleiten, sich also praktisch nicht verändern. Unsere Persönlichkeit und damit auch unsere Kernprinzipien werden zu über neunzig Prozent bereits in den ersten sechs oder sieben Jahren unseres Lebens geformt und bleiben danach relativ stabil. Seinen Prinzipien treu zu bleiben, gibt dem Leben eine gewisse Struktur sowie eine klare Linie.

Prinzipien sollten auch in Unternehmen nachhaltig implementiert werden und dauerhaft Bestand haben, damit sie Mitarbeitern, vor allem in Veränderungsprozessen oder Krisenzeiten, eine gewisse Orientierung geben können. Schaue ich mir allerdings eine Führungskraft an, die vielleicht Mitte vierzig ist, dann sind ihre Kernprinzipien schon fast vierzig Jahre alt und entsprechend stabil. Diese zu ändern, dauert entsprechend lange, falls es überhaupt gelingt. Insofern ist es effektiver, wenn ich eine offene Stelle mit einer Person besetze, die die erforderlichen Prinzipien bereits hat, und zwar vielleicht schon seit vierzig Jahren, denn diese Person wird die Prinzipien des Unternehmens von sich aus vertreten und weitergeben.

Führungskräften kommt in diesem Kontext eine Vorbildfunktion zu: Wenn die Belegschaft wahrnimmt, dass ihr Vorgesetzter Prinzipien hat und folglich auch Charakterstärke, dann wird ihr das während einer Veränderung oder einer kritischen Situation die nötige Sicherheit geben und etwas sein, an das sie sich halten kann. Schließlich behalten Prinzipien wie beispielsweise Ehrlichkeit oder Zuverlässigkeit auch nach einer Veränderung ihre Gültigkeit.

Im Gegensatz dazu können und müssen die Werte eines Unternehmens, einer Abteilung oder eines Teams angepasst werden, wenn sich das Umfeld oder die Rahmenbedingungen verändern. Häufig hängt das mit der Organisationsstruktur zusammen: Je hierarchischer ein Unternehmen aufgebaut ist, desto eher werden dort Werte wie Pflichtbewusstsein, Regelkonformität, Gehorsam oder Disziplin zu finden sein. Soll sich jedoch die Organisationsstruktur ändern, dann müssen die Werte entsprechend angepasst werden. […]

Eigentlich sollte jedem klar sein, dass ein Wertewandel nicht einfach beschlossen und über Nacht eingeführt werden kann – so etwas braucht Zeit und gute Vorbereitung. Zwar werden solche Veränderungen Top-Down eingeführt, müssen aber Bottom-up gelebt werden. Führungskräfte müssen die neuen Werte daher aktiv einfordern bzw. den Übergangsprozess moderierend begleiten, damit er auch tatsächlich gelingt. Man sollte sich jedoch auf jeden Fall darüber im Klaren sein, dass der Erfolg sich nur langsam einstellt, denn wenn neue Werte implementiert werden, dann muss das nachhaltig passieren, sodass sie auch über die aktuelle Veränderung hinaus Bestand haben. Und das ist ein Prozess, der dauert. Wir sind schon oft gefragt worden, wie das funktioniert, und dann sagen wir immer: »Das geht nur unermüdlich, geduldig, ausdauernd und empathisch – einen anderen Weg zur Nachhaltigkeit gibt es nicht!«

Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, dass die Organisationsstrukturen und damit die Wertehaltungen in den unterschiedlichen Abteilungen eines Unternehmens differieren: Während im Vertrieb offensive Werte gefordert sind, braucht man in der Finanzabteilung Stabilität und in der Projektarbeit vor allem Flexibilität. Außerdem kann es notwendig sein, dass ein Unternehmen, zum Beispiel aufgrund veränderter Rahmenbedingungen, seine Werte anpassen muss. In diesem Fall müssen Führungskräfte rekrutiert werden, die zu den zukünftigen, angestrebten Werten passen, nicht zu den aktuellen. […]

Wir haben uns bei dieser Frage bewusst für die Formulierung »alte Werte« entschieden, weil wir der Meinung sind, dass es Dinge gibt, die völlig zu Recht über Jahrhunderte hinweg Bestand haben. So hat George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten, bereits 1748 – da war er gerade mal sechzehn Jahre alt – 110 Regeln für ein besseres Miteinander aufgeschrieben und in dem Buch »Rules of Civility & Decent Behaviour« (»Regeln der Höflichkeit und des Anstands«) zusammengefasst. Washington benutzte als Grundlage wahrscheinlich eine Regelsammlung französischer Jesuiten aus dem Jahre 1595.[1]

Jetzt mögen an dieser Stelle vielleicht einige die Stirn runzeln und denken: »Was soll ich heute noch mit Werten aus dem 16. bzw. 18. Jahrhundert anfangen?« Schaut man sich jedoch zum Beispiel Washingtons erste Regel an, dann wird man schnell feststellen, dass sie nichts an Aktualität eingebüßt hat: »Jede Handlung, die man in Gesellschaft unternimmt, sollte Respekt vor den Anwesenden zeigen.«[2] Oder Regel Nr. 65: »Sag nichts Kränkendes, weder im Ernst noch im Spaß. Spotte über niemanden, auch wenn er dafür Anlass gibt.«[3] Angesichts der abwertenden, beleidigenden Kommentare, die man mitunter in den sogenannten sozialen Medien lesen kann, wäre das eine Regel, deren Anwendung uns allen sicherlich guttun würde! Und in so mancher Firma oder Abteilung würde sich dadurch die Diskussionskultur garantiert verbessern und Konflikte könnten vermieden werden. Oder vielleicht würden Vorgesetzte nicht tatenlos dabei zusehen, wie ihre Mitarbeiter auf einen Burn-out zusteuern, wenn sie die Regel Nr. 110 beherzigen würden: »Arbeite daran, in deiner Brust den kleinen Funken himmlischen Feuers lebendig zu halten, den man Gewissen nennt.«[4] […]

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, 0Jan und Marcello Liscia, 2022

[1] Washington, George, 110 Regeln des Anstands und gegenseitigen Respekts in Gesellschaft und im Gespräch, dtv Verlagsgesellschaft 2018, S. 4f.

[2] Washington, George, 110 Regeln des Anstands und gegenseitigen Respekts in Gesellschaft und im Gespräch, dtv Verlagsgesellschaft 2018, S. 12.

[3] Ebd., S.42.

[4] Ebd., S.72.

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