»Mir geht’s gar nicht gut. Also, ich bin jetzt nicht total deprimiert oder so, aber mir geht’s auch nicht gut«, sagte Katharina unter Tränen im Coaching zu uns. »Trotzdem danke ich euch, dass ihr den Finger in die Wunde gelegt habt, denn es ist genau das, was ich von euch erwarte.«

Zu diesem Zeitpunkt begleiteten wir Katharina bereits seit zwei Jahren, sie war die Geschäftsführerin einer Holding mit Sitz in Frankfurt. Das Unternehmen war in dieser Zeit enorm gewachsen, was an sich ja eine gute Nachricht ist, und hatte mit Katharina eine echte Powerfrau an der Spitze. Doch wenn ein mittelständisches Unternehmen wächst oder wachsen muss, dann gerät es schnell in eine Zwickmühle, weil es heute die Strukturen aufbauen muss, die es sich eigentlich noch gar nicht leisten kann und die derzeit auch noch nicht gebraucht werden. Trotzdem müssen sie jetzt etabliert werden, damit die Firma die Herausforderungen von morgen bzw. das erhöhte Auftragsvolumen bewältigen kann.

Und damit sind wir wieder beim Thema unternehmerisches Handeln: […] muss der Unternehmer zeitgleich die drei Perspektiven Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Blick haben. Unternehmerisches Denken und Handeln bedeutet in diesem Fall ganz konkret, auch den Übergang zwischen Gegenwart und Zukunft aktiv zu gestalten. Es gibt viele Unternehmen, die in einer Expansionsphase oder während der Gründung sagen: »Ich baue mir erst dann die entsprechende Belegschaft und die nötigen Strukturen auf, wenn ich auch wirklich genügend Aufträge in der Tasche habe.« Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Erst eine Mannschaft aufbauen, dann die Aufträge akquirieren.

Katharinas Problem ging in genau diese Richtung: Sie hatte vor allem die Zukunft vor Augen ohne sich um den Übergang dorthin Gedanken zu machen. Aufgrund der großen Nachfrage plante sie bereits zwei weitere Standorte im Ruhrgebiet, übersah dabei jedoch komplett, dass ihre Mitarbeiter in der Frankfurter Zentrale schon jetzt auf dem Zahnfleisch gingen und sich aufgrund von Personalmangel mit vielen Dingen beschäftigen mussten, die eigentlich gar nicht zu ihrem Tätigkeitsschwerpunkt gehörten. Jeder machte alles und war überall involviert, um das Arbeitspensum irgendwie bewältigen zu können. Aber Katharina hatte nichts anderes im Kopf, als mit dieser ausgepowerten Mannschaft auch noch zwei weitere Standorte an den Start zu bringen – sie wollte einfach zu viel und am liebsten gleich alles auf einmal.

Wir mussten sie bremsen, auch wenn uns klar war, dass wir ihr damit wahrscheinlich weh tun würden. »Das funktioniert so nicht«, erklärten wir ihr. »Du musst Prioritäten setzen, es geht nicht alles auf einmal. […]

Die beiden neuen Standorte solltest du erst einmal zurückstellen, dieser Prozess wird sich garantiert um vier bis sechs Wochen verzögern.« »Aber wir hatten uns das doch als Ziel gesteckt«, wandte Katharina ein.

»Das mag ja sein«, antworteten wir. »Doch was nützt der beste Plan, wenn es aufgrund des leer gefegten Arbeitsmarktes einfach länger dauert als vorgesehen, genügend Fachkräfte an Bord zu holen? Wir müssen die ursprünglichen Ziele jetzt der Realität anpassen, sonst bricht dir der Laden über dem Kopf zusammen und wir müssen uns dann gemeinsam überlegen, wie wir die Situation überhaupt noch retten können. In diesem Fall haben wir als deine Berater vielleicht einen neuen Auftrag, aber der heißt wahrscheinlich Gesundschrumpfen – also von 160 Mitarbeitern wieder runter auf 80, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dieser Prozess wird allerdings nicht nur sehr viel länger dauern, sondern außerdem auch sehr viel teurer werden, und das nur deshalb, weil du nicht vier bis sechs Wochen abwarten möchtest, um den nächsten Schritt zu gehen.« […]

Als Katharina am Ende keine überzeugenden Argumente mehr vorbringen konnte, brach sie in Tränen aus. In diesem Moment war sie zu der schmerzhaften Erkenntnis gelangt, dass wir Recht hatten und sie ihre ehrgeizigen Pläne vorerst zurückstellen musste, auch wenn es ihr damit im ersten Moment nicht gut ging. Obwohl wir ihr wehgetan und sie zum Weinen gebracht hatten, war sie am Ende dankbar, » … dass ihr den Finger in die Wunde gelegt habt, denn es ist genau das, was ich von euch erwarte.« In ihrer Position als Geschäftsführerin braucht sie einfach jemanden, der Tacheles mit ihr spricht – Mitarbeiter trauen sich aufgrund des Machtgefälles ja oftmals nicht, ein ehrliches Feedback zu geben, weil sie um ihren Job fürchten. Daher reden sie ihren Vorgesetzten lieber nach dem Mund, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.

Wir hingegen werden dafür bezahlt, unbequem zu sein und Dinge kritisch zu hinterfragen. Wir tun das nicht, weil es uns gefällt, Spielverderber zu sein oder jemandem weh zu tun, sondern unseren Kunden zuliebe, denn die Unternehmen oder Teams, die uns engagieren, sind meistens so sehr in ihrer eigenen Blase gefangen, dass sie viele Dinge als gegeben hinnehmen. Und dann kommen wir – betrachten alles mit einem kritischen Blick von außen, stellen gewohnte Prozesse infrage und bringen neue Perspektiven ein. Dadurch zwingen wir unsere Auftraggeber regelrecht dazu, ihre Komfortzone zu verlassen, was mitunter schon mal recht schmerzhaft sein kann. Doch manchmal braucht es eben einen heilsamen Schock, um jemanden wachzurütteln und ihm zu zeigen, dass er in die falsche Richtung marschiert. Katharina wäre uns sicherlich nicht dankbar gewesen, hätten wir sie unkommentiert in ihr Elend rennen lassen. […]

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022

Warum sind unsere Meetings nicht effektiv?