Angst wird im Allgemeinen als etwas Negatives betrachtet, dabei ist sie ein wichtiger Warn- und Schutzmechanismus. Schon unseren Urahnen hat die Angst vor dem Säbelzahntiger das Überleben gesichert, denn die Angst vor dieser Gefahr ließ sie die Flucht ergreifen. Der renommierte Angstforscher Borwin Bandelow behauptet sogar, dass wir unsere Existenz nur den Hasenfüßen unter unseren Urahnen verdanken, denn während die Draufgänger vom Säbelzahntiger gefressen wurden, liefen die Ängstlichen weg und überlebten: »Wer nicht überlebte, konnte keine Nachfahren bekommen. Diese Risikobereiten waren nicht unsere Vorfahren. Wir sind die Nachfahren der Angsthasen von damals […]. Sie gaben ihre Angst in Form eines Sicherheitsmechanismus auf genetischem Wege an ihre Kinder weiter. […] Menschen, die in der Urzeit keine Angst vor gefährlichen Spinnen, Schlangen, Säbelzahntigern und anderem gefährlichen Viehzeug hatten, starben im Laufe der Evolution aus, da sie einfach zu unvorsichtig waren.«[1] Angst ist daher so alt wie die Menschheit selbst, sie ist fest in unser aller Gehirn verankert, und zwar im sogenannten Limbischen System.
Wenn wir also einer tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahrensituation ausgesetzt sind, reagiert unser Körper ganz automatisch nach altbekannten Mustern, ohne dass wir darauf großen Einfluss haben: Atmung und Herzschlag werden schneller, die Pupillen weiter, die Muskeln besser durchblutet, Aufmerksamkeit und Konzentration steigen, der Körper schüttet Stresshormone aus. Nahrungsaufnahme, Verdauung oder Sex spielen in diesem Moment keine Rolle, alles ist einzig und allein auf eine schnelle physische Reaktion ausgerichtet. Schließlich muss die Entscheidung zwischen Kampf oder Flucht in Sekundenbruchteilen getroffen werden, sonst schnappt der Säbelzahntiger zu.
Aber wenn uns diese automatisch ablaufenden Mechanismen seit jeher unser Überleben sichern, warum sagt man dann, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei? Ganz einfach: Ihre Aufgabe als Warn- und Schutzmechanismus kann die Angst nur dann erfüllen, wenn weder zu viel Angst unser Handeln blockiert noch zu wenig Angst reale Gefahren und Risiken ausblendet. Vor allem die Situation, dass zu viel Angst unser Handeln geradezu paralysiert, ist den meisten von uns irgendwann im Leben schon einmal begegnet: Man kann nicht kämpfen, ist aber auch nicht in der Lage zu fliehen, sondern bleibt sowohl im übertragenden, manchmal allerdings auch im wörtlichen Sinn auf der Stelle stehen und tut gar nichts.
Von unseren Kunden kennen wir eine solche Blockade vor allem im Kontext mit Entscheidungen. Und da wir häufig mit Führungskräften arbeiten, sind diese in ihren Unternehmen auch die sogenannten Entscheidungsträger. Steht jedoch ein Entscheider an der Spitze eines Unternehmens, einer Abteilung oder eines Teams, der diesen Namen nicht verdient, kann das fatale Folgen haben. Denn die sogenannte Vogel-Strauß-Taktik, also den Kopf in den Sand zu stecken, bis die vermeintliche Gefahr vorüber ist, hat noch niemandem geholfen und verschlimmert oftmals die Situation. Probleme lassen sich weder aussitzen, noch lösen sie sich in Luft auf, wenn ich eine Entscheidung nur lange genug hinauszögere. Vielen scheint darüber hinaus noch immer nicht bewusst zu sein, dass Entscheidungen auch dann stattfinden, wenn sie gar nichts tun: In diesem Fall entscheiden sie sich, ob sie das nun wollen oder nicht, automatisch für den Status quo.
Statistiken zeigen, dass sich hinter der Entscheidungsschwäche von Führungskräften die Angst verbirgt, eine Entscheidung zu treffen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellt: So haben 54 Prozent der Manager Angst, inhaltliche Fehler zu machen und 38 Prozent haben Angst, in der Krisenkommunikation zu versagen.[2] Trotzdem ist Angst gerade in Führungsetagen ein Tabuthema, über das eigentlich niemand gern spricht, um sich nur ja keine Blöße zu geben, die einem als Schwäche ausgelegt werden könnte und angreifbar macht. Aber Angst ist im beruflichen Kontext keine Privatsache, sondern auch ein Kostenfaktor. In ihrem Buch »Angst – Macht – Erfolg« beziffern die Autoren Winfried Panse und Wolfgang Stegmann den volkswirtschaftlichen Schaden auf weit über 100 Milliarden Euro: »Die gehen im Jahr verloren durch angstbedingten Arbeitsausfall und Arbeitsminderung (9 Milliarden), Medikamentenmissbrauch (10 Milliarden) und Alkoholmissbrauch (24 Milliarden) infolge von Angst, Mobbing aus Angst (20 Milliarden) und innere Kündigung.«[3] Die schlechte Nachricht ist: Wer sich nicht mit seiner Angst auseinandersetzt, den könnte sie irgendwann entweder komplett zu Fall bringen oder zumindest sein Leben sehr stark einschränken.
Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Es lohnt sich, den Kampf gegen die Angst aufzunehmen, denn man kann ihn gewinnen und dadurch sein Leben zum Positiven verändern. Dazu gehört zunächst einmal die Unterscheidung von Angst und Sorge, die von vielen fälschlicherweise als Synonym benutzt wird. Angst ist, wie Freude, Ärger oder Traurigkeit, eine Emotion. Diese Emotionen spielen sich, wie geschildert, im Limbischen System ab und können von uns kaum gesteuert werden, da sie automatisch ablaufen. Sieht ein Arachnophobiker eine harmlose Hausspinne wird er – ohne nachzudenken – schreiend davonlaufen. Natürlich weiß er, dass diese Spinne keine ernsthafte Bedrohung darstellt, aber die Vernunft ist im Angesicht einer Spinne einfach ausgeschaltet.
Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022
[1] Bandelow, Borwin, Flugangst. Woher sie kommt und wie man sie bekämpfen kann, Rowohlt E-Book 2015, S.33f.
[2] Vgl. Statista.de/2020.
[3] handelsblatt.com, Wenn Manager Angst haben, veröffentlicht am 08.11.2006.