Trends gibt es nicht nur in der Modewelt, sondern auch im Trainer- und Beraterbusiness. […] Alles scheint entweder schon agil zu sein, zu werden oder immer schon gewesen zu sein. Viele sprechen davon – auch mit uns – und manche sehen darin gar das Allheilmittel für alle möglichen Probleme, ohne wirklich zu wissen, worum es dabei eigentlich geht. Aber wenn Agilität tatsächlich mehr ist »als eine Modewelle, die nicht wieder verschwinden wird«, dann sollten wir einmal genauer beleuchten, was sich dahinter verbirgt.

Schaut man sich zunächst den Begriff »agil« an, dann bedeutet er so viel wie schnell, wendig oder beweglich. Im Kontext von Projektmanagement in Unternehmen bedeutet agil, schnell und flexibel auf veränderte Rahmenbedingungen in der Geschäftswelt reagieren zu können – besonders in der heutigen Zeit, die geprägt ist von zunehmender Unvorhersehbarkeit und technischer Innovation. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von der sogenannten »VUCA-Welt«: Die Buchstaben des Akronyms stehen für die englischen Begriffe »Volatility« (Volatilität, starke Schwankungen), »Uncertainty« (Unsicherheit, Unkenntnis über kommende Entwicklungen), »Complexity« (Komplexität, vielfältige Verknüpfungen) und »Ambiguity« (Widersprüche, Mehrdeutigkeit). […] Inzwischen ist der Begriff von der Wirtschaft übernommen worden und meint hier das zunehmend schwierige Marktumfeld, mit dem sich die Unternehmen heutzutage konfrontiert sehen. Um in diesem Umfeld erfolgreich führen zu können, sollte man verstehen, wie sich die vier Herausforderungen der »Vuca-Welt« auf Unternehmen und ihre Mitarbeiter auswirken.

Gerade angesichts von Globalisierung und Digitalisierung kann eine hohe Reaktionsfähigkeit von Unternehmen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen. […]

Das Konzept der agilen Führung kommt ursprünglich aus dem IT-Bereich. Sind Teams für ein bestimmtes Projekt verantwortlich, dann rotiert die Führungsposition innerhalb der Teammitglieder: Je nachdem, in welcher Phase des Projekts sich das Team gerade befindet, braucht es eine andere Expertise im Vordergrund. Und so übernimmt das Teammitglied, das über diese Expertise verfügt, temporär die Führung des Teams. Tritt das Projekt in eine neue Phase ein, die eine andere Expertise erfordert, übernimmt entsprechend auch ein anderes Teammitglied die Führung. Agilität bedeutet in diesem Zusammenhang, mit Anforderungsänderungen während eines Prozesses flexibel umzugehen.

Daraus hat sich schließlich das Konzept der agilen Führung entwickelt: Sie ist nicht streng hierarchisch ausgerichtet, sondern geht davon aus, dass sich der einzelne Mitarbeiter oder die Teams selber führen sowie ihre eigenen Prozesse optimieren. Im Mittelpunkt stehen dementsprechend Eigenverantwortung und selbstbestimmtes Arbeiten, und zwar auf allen Hierarchieebenen. Daher müssen auch die Führungskräfte selbst ihr Handeln neu denken, denn bei der agilen Führung verlieren sie ihre »klassische« Rolle als Chefs und werden zu Coaches oder Mentoren ihrer Belegschaft. […]

Nichtsdestotrotz berücksichtigt agile Führung auch, dass sich die Ansprüche der Mitarbeiter an ihre Tätigkeit in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Heutzutage steht verstärkt Sinnhaftigkeit sowie die Selbstentfaltung im Vordergrund, aber auch lebenslanges Lernen und persönliches Wachstum sind wichtige Themen. Gerade die jüngere Belegschaft, also die Generationen Y und Z, wünscht sich eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit fernab von jeder Routine, aber es ist vor allem die Generation Y, die autonomes, selbstständiges Arbeiten bevorzugt. […]

Ganz allgemein kann man jedoch feststellen, dass es in Unternehmen vor allem die jungen Mitarbeiter sind, die die streng hierarchischen Führungsstrukturen infrage und traditionelle Karrieresysteme auf den Kopf stellen. Mitunter wird in diesem Zusammenhang auch das englische Wort »Unbossed« verwendet, da die Führungskräfte nicht mehr anordnen, sondern lediglich einen verlässlichen Rahmen für die Teamarbeit bereitstellen und außerdem immer wieder Rückmeldung geben. Je mehr »Unbossing« stattfindet, desto selbstständiger werden also die Mitarbeiter, erweitern ihre Kompetenzen und nehmen mehr Verantwortung wahr: »Unbossed is a provocative term for empowerment, based on behavioral theories around human motivations for change. Telling people what you want them to do isn’t as effective as motivating them to change.«[1],[2]

Der Grundgedanke von agiler Führung ist gut, allerdings müssen dafür zunächst bestimmte Voraussetzungen im Unternehmen oder im Team geschaffen werden. Bei einer Veränderung der Organisationsstruktur ist es beispielsweise immer erforderlich, auch die entsprechenden Werte anzupassen. Habe ich mein Unternehmen oder meine Abteilung also bisher eher hierarchisch geführt, waren vor allem Werte wie Pflichtbewusstsein, Gehorsam oder Disziplin wichtig, während Mitarbeiterpartizipation eine untergeordnete Rolle spielte. Diese spielt bei agiler Führung jedoch eine große Rolle, ebenso Werte wie Offenheit oder der Mut, eigene Entscheidungen zu treffen. Eine derartig essentielle Veränderung von Werten funktioniert allerdings nicht über Nacht, auch wenn manche das immer noch glauben. […]

 

Auszug aus dem Buch „Führung ist mehr – 27 Fragen, die wir auch beantworten können“ von Gianni, Jan und Marcello Liscia, 2022

[1] https://www.gallup.com/workplace/349589/unbossing-leaders-novartis.aspx?version=print, abgerufen am 20.05.2022.

 

[2] »Unbossing ist ein provozierender Ausdruck für die Befähigung von Mitarbeitern und basiert auf der Verhaltensforschung bezüglich menschlicher Motivation im Zusammenhang mit Veränderungen. Den Menschen zu sagen, was sie zu tun haben, ist dabei weniger effektiv als sie zu motivieren, sich zu ändern.«